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Streit um das Arbeitszeugnis
25
Apr.
2025

„Arbeitszeugnisse sind Scam!“ [Meinung]

Computertastatur. Eine Lupe hebt die Buchstaben SCAM hervor

Autorin: Claudia Kilian

Ein LinkedIn-Post hat mich heute morgen getriggert: Arbeitszeugnisse sind Scam, hieß es da. Sind Arbeitszeugnisse wirklich Betrug? Oder verkennen wir ihren eigentlichen Wert? Ein Plädoyer für mehr Differenzierung, Fairness – und echte Wertschätzung.


Heute früh bin ich auf LinkedIn über einen Beitrag eines jungen, dynamischen Recruiters gestolpert. Er zeigte ein „ehrliches“ Arbeitszeugnis, das er gern einmal so ausstellen würde. Dazu schrieb er unter anderem sinngemäß:

„Arbeitszeugnisse sind Scam.“ [Betrug.] Angeblich sollen sich potenzielle Arbeitgeber durch das Arbeitszeugnis ein Bild vom Bewerber machen können. Wie denn, wenn man als Ex-Arbeitgeber nicht ehrlich schreiben darf, was Sache ist. Und wenn das Zeugnis nicht positiv genug ist, kann der Mitarbeiter auch noch verlangen, dass es noch positiver wird.

Quelle: LinkedIn

Sind Arbeitszeugnisse also wirklich Betrug?

Als Zeugnisberaterin triggert mich so eine Aussage natürlich. Die Argumente der Anti-Zeugnis-Fraktion sind altbekannt:
„Heute darf sich doch jeder das Zeugnis selbst schreiben.“
„Zeugnisse sind wertlos, weil sie nicht ehrlich sind.“
„Sie werden vor Gericht vereinbart – das nimmt doch niemand mehr ernst.“

Ich sehe das anders. Und ich frage Sie:

In meinen Augen wird mit zweierlei Maß gemessen: Viele, die in den sozialen Medien über die vermeintliche Sinnlosigkeit von Arbeitszeugnissen schimpfen, haben doch selbst kein Interesse daran, differenzierte und wertschätzende Zeugnisse zu verfassen – unabhängig davon, wie der oder die Mitarbeitende gearbeitet hat. (Würden dieselben Personen es eigentlich akzeptieren, auf Kununu & Co. nicht ganz so wohlwollend bewertet zu werden?)

Diese Arbeitszeugnisse sind wirklich wertlos

Was glauben Sie, wie viele Arbeitszeugnisse von erfahrenen, loyalen Fach- und Führungskräften bei mir auf dem Schreibtisch landen, die das Papier nicht wert sind? Zeugnisse für Persönlichkeiten, die über Jahre hinweg mitgedacht, mitgetragen, mitentwickelt haben – abgefertigt mit ein bis zwei Seiten Baustein-Blabla.

Über 90 % dieser Zeugnisse werden mit einem Software-Tool erstellt – meist dem Marktführer. Und weil niemand Lust auf Zeugnisse hat, wird auch gleich der erste Textbaustein genommen. Ob er passt oder nicht – egal! Es fällt sofort auf, wenn das Zeugnis von jemandem verfasst wurde, der die Person nicht kennt, die Aufgaben nicht versteht – und den Wert der Arbeitsleistung nicht einschätzen muss. Wenn’s gut läuft, wurde es zumindest von der HR-Abteilung vor Ort verfasst – und nicht im Shared Service Center irgendwo in Osteuropa. Diese Zeugnisse empfinde ich als wertlos. (By the way: ehrlich sind sie auch nicht.)

Wie wohlwollend muss ein Zeugnis wirklich sein?

Ein Arbeitszeugnis muss nicht übertrieben positiv sein. Es muss wohlwollend sein – also so, dass es die weitere berufliche Entwicklung nicht grundlos erschwert. Das ist nicht immer einfach, gerade wenn die Performance nicht (mehr) so überzeugend war. Aber mit sprachlichem Feingefühl geht auch das:

  • Ein Mitarbeiter war immer zuverlässig? → „Er war stets zuverlässig.“
  • Nicht immer? → „Er war zuverlässig.“
  • Sehr unzuverlässig? → Man lässt die Zuverlässigkeit ganz weg.

Deshalb frage ich Arbeitgeber stets: Was konnte der Mitarbeiter gut – und was nicht? Nur so entsteht ein individuelles, faires und gleichzeitig rechtssicheres Zeugnis. Ein pauschales Baustein-System kann das nicht wirklich leisten. Und genau deshalb braucht es einen differenzierten Blick.


Mein Fazit: Sind Arbeitszeugnisse Scam oder Betrug? Nein. Aber viele Zeugnisse sind eigentlich wertlos – nicht, weil sie wohlwollend formuliert sind, sondern weil sich niemand ernsthaft mit der Person in ihrer Rolle beschäftigt hat.

Was meinen Sie: Brauchen wir wirklich „ehrlichere“ Arbeitszeugnisse – oder einfach bessere?

Autorin: Claudia Kilian
Zeugnis-Expertin, Volljuristin, Fachbuchautorin mehrerer Bücher über Arbeitszeugnisse, langjährige Lektorin.
Seit 2008 der Kopf hinter „Mein-Arbeitzeugnis.com“